Bewerbungsgespräch: Der Kandidat hat tolle Stationen im Lebenslauf, beste Zeugnisse, gute Referenzen, das Foto ist professionell und sympathisch. Der Geschäftsführer ist gespannt auf diesen Bewerber, der alles mitzubringen scheint. Dieser nimmt den angebotenen Kaffee freundlich an und startet mit den Worten „Ich bin ja so nervös, habe lange überlegt, was ich anziehen soll, wusste gar nicht was passend für Ihr Unternehmen ist.“ Sehr ehrlich und authentisch.
Überall wird einem geraten, ehrlich zu sein, zu sich zu stehen. Man liest es in Zeitschriften und Fachbüchern, hört es auf Kongressen und Konferenzen. Immer authentisch – das sei das Beste! Sei es in Wirtschaft, Politik, Kultur. Als Arbeitnehmer, als Führungskraft, als Projektmanager, als Kunde. Beruflich und privat. In positiven und in negativen Situationen. Ist das wirklich immer ein guter Rat?
Was ist eigentlich „authentisch“?
Das griechische Wort für Authentizität setzt sich aus „autos“ („selbst“) und „ontos“ („seiend“) zusammen, selbstseiend. Im Duden finden sich als Synonyme z.B. echt, glaubwürdig, ungeschönt oder unverfälscht. Sich authentisch zu verhalten bedeutet, nach seinem Selbst – seinen Gedanken, Emotionen und Bedürfnissen – zu handeln, sich selbst treu zu bleiben und aufrecht zu seinen Überzeugungen zu stehen. Das klingt gut.
Man soll sich so geben, wie man ist, im Einklang mit seinen Emotionen handeln.
Aber: Jeder von uns hat doch schon mal einen cholerischen Chef erlebt, der ausflippt, weil ein Konferenzraum doppelt gebucht oder ein Fehler in der Präsentation ist. Der dann gleich noch alle rund macht, weil sowieso grad alles schlecht läuft. Ist es wirklich in Ordnung, auszuflippen, seine schlechte Laune auszuleben und als Entschuldigung hinterher zu sagen „Ich bin halt so“? Soll wirklich immer jeder mitkriegen, wie man sich gerade fühlt?
Oder eben in Bewerbungsgesprächen. Geben wir Freunden einen guten Rat, wenn wir sagen „Wenn Du aufgeregt und nervös bist, dann sag das einfach. Das ist authentisch.“ Das Gefühl ist authentisch. Aber müssen wir das wirklich aussprechen? Möchte der zukünftige Arbeitgeber ein nervöses Huhn einstellen? Oder doch lieber jemanden, den er sich souverän in der zukünftigen Rolle vorstellen kann und der mit seinen Emotionen, auch mit den unangenehmen, umgehen kann? Der zeigt, wie er in herausfordernden Situationen reagiert.
Welches Verhalten, welche Art der Kommunikation schätzen wir?
Ist das, was wir an manchen Menschen so schätzen oder sogar bewundern wirklich deren Authentizität? Oder ist es eher eine Stimmigkeit im Verhalten? Sich immer authentisch zu verhalten würde ja heißen, keine Filter einzubauen und seinen Emotionen zu jeder Zeit freien Lauf zu lassen.