Der Begriff Authentizität ist ziemlich strapaziert worden. Es ist der missbräuchliche Gebrauch des Begriffs der Authentizität, der mich ärgert, wenn Gefühlsausbrüche und unhöfliches, ungeduldiges, unprofessionelles Verhalten unter dem Label der Authentizität gerechtfertigt werden.
Prof. Friedemann Schulz von Thun, Begründer einer humanistisch-systemischen Kommunikationspsychologie, hat sich dem Thema Authentizität aus kommunikationspsychologischer Sicht genähert. Er spricht von Echtheit und davon, sich nicht zu verstecken. Aber auch von innerer Klarheit. Wer seine inneren Reaktionen für sich selbst klarkriegt, kann auch nach außen klar kommunizieren, kann sich kongruent nach innen und außen verhalten, muss sich selbst nichts vormachen. Als Stimmigkeit bezeichnet er das „mir Gemäße, die Übereinstimmung zwischen innerem Zumutesein und äußerem Gebaren.“ Er bezieht sich dabei auch auf die Psychologin Ruth Cohn, die von der selektiven Authentizität spricht. Nämlich nicht: „Lass alles raus, was in dir ist – was der andere damit macht, ist sein Problem“, sondern: sich klar werden über die eigenen Gefühle und diese selektiv zeigen, der Situation angemessen. Absolute Aufrichtigkeit hingegen kann zerstören.
Wie wir uns selber Fallen stellen – und da wieder rauskommen.
Authentizität wird meines Erachtens oft missverstanden. Authentizität wird als Deckmäntelchen benutzt, als perfekte Ausrede, sich nicht ändern zu müssen – „so bin ich eben.“
Und ist es nicht auch so, dass es zum Leben dazu gehört, sich auch mal unauthentisch zu fühlen und zu verhalten? Vor allem wer etwas Neues macht, fühlt sich erstmal irgendwie seltsam, so ungeübt. Zum Beispiel wenn man einen beruflichen Schritt macht, eine (neue) Führungsrolle annimmt, den Verantwortungsbereich ausweitet oder in einer anderen Sprache präsentieren muss.
Die Überbewertung von Authentizität kann uns davon abhalten, alte Rollen zu verlassen. Alte Rollen, die vielleicht gar nicht mehr zu uns passen. Die Authentizitätsfalle hält uns davon ab zu wachsen, denn das Erobern neuen Terrains ist immer damit verbunden sich unsicher und sogar unecht zu fühlen.
Soll jemand zum Beispiel zum ersten Mal eine wichtige Präsentation vor großem Publikum halten, dann ist er wahrscheinlich ziemlich nervös, er glaubt seine Stimme zittern zu hören und die Versuchung ist groß, sich hinter dem Rednerpult zu verstecken. Dennoch muss die Präsentation ja gehalten werden. Und zwar möglichst gut. Wird die Präsentation dadurch besser und hören die Leute einem zu, wenn man allen sagt, dass man furchtbar nervös ist, ganz klein da vorne steht und dadurch den Eindruck erweckt, dass es vielleicht auch gar nicht so toll ist, was man gleich erzählen wird? Eher nicht. Also: durchatmen, sich seiner Stärken bewusst werden und sich sicher fühlen. Und wenn man es sich selbst ein wenig vorspielt.
Das heißt nun nicht, dass wir uns ab heute nicht mehr „echt“ verhalten sollen. Aber: Authentizität sollte nicht als Ausrede für „Bewegungsunfreiheit“ herhalten.